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Entwurf eines Gesetzes zur Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kin-der und der Kindertagespflege

31.12.2020

Stellungnahme zum Gesetzesentwurf zur Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege
– Ablehnung des Gesetzentwurfs

vielen Dank für die Möglichkeit zur Stellungnahme zum Gesetzentwurf zur Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege.

Den hier angeführten Entwurf des Gesetzes lehne ich entschieden ab.

Es bedarf stattdessen eine grundlegende Neuausrichtung des Gesetzes mit dem Ziel, den Rechtsanspruch auch in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege in allen Altersgruppen auf Inklusion endlich zu verankern.

In der Gesetzesbegründung wird Inklusion in seiner Vielfalt beschrieben. Unter Vielfalt zählen selbstverständlich auch Kinder mit Behinderungen mit in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege mit der notwendigen Förderung. Den Anspruch der Gesetzesbegründung erfüllt der vorgelegte Gesetzentwurf jedoch nicht.

Trotzdem wird Inklusion im vorgelegten Gesetzesentwurf noch immer nicht gesetzlich verankert. Ich erkenne keine konkrete Ausgestaltung von Inklusion in diesem Gesetzentwurf für Kindertageseinrichtungen und die Kindertagespflege. Im Gegenteil, Kinder ab drei Jahren würden mit dem vorgelegten Gesetzentwurf einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einem Sonderkindergarten erhalten. Stattdessen muss das Recht auf Heilpädagogische Förderung bei Bedarf gesetzlich verankert werden und darf nicht von einem Ort der abhängig gemacht werden.

Daraus stellt sich meine Frage: Ist Inklusion und sind damit Begegnungsmöglichkeiten und miteinander und voneinander Lernen in Niedersachsen für diese Zielgruppe nicht gewollt? Der Gesetzentwurf stellt in der vorgelegten Form eine Diskriminierung von Kindern mit Behinderungen (und ihren Familien) nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz dar. Seit über 10 Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, Deutschland hat sich damit zu Inklusion bekannt. Inklusion muss im ganzen Bildungssystem verankert sein.

Die „gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung erfüllt das Recht auf Teilhabe am normalen Leben mit Hilfe heilpädagogischer Arbeit“, so der Orientierungsplan für Bildung und Erziehung, Nds. Kultusministerium. Diesem Grundsatz muss sowohl in jeder Kindertageseinrichtung als auch in jeder Kindertagespflege entsprochen werden.

In Niedersachsen wird ein Großteil der Kinder mit besonderem Förderbedarf (42,3%) in Gruppen in KiTas mit mehr als 90% an Kindern mit Eingliederungshilfe betreut“. Zum Stichtag 31.10.201 gab es acht Sonderpädagogische/Heilpädagogische Kindergärten für Kinder mit einer Körperbehinderung, zehn heilpädagogische Kindergärten für Kinder mit einer Hörbehinderung, 80 Sprachheilkindergärten und 112 Heilpädagogische Kindergärten für Kinder mit einer geistigen Behinderung.

Der vorliegende Gesetzentwurf diskriminiert jedoch Kleinkinder und Kinder mit Behinderungen, indem noch nicht einmal eine wohnortnahe, inklusive Förderung zur Pflicht wird (vgl. § 4 (7) „Kinder, die nach […] SGB IX […] in Verbindung mit SGB XII […] leistungsfähig sind, sollen (nicht müssen!) nach Möglichkeit in einer ortsnahen Kindertagesstätte gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung in einer Gruppe betreut werden“).

Deshalb bedarf auch das Nds. Gesetz zur Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege analog zum Nds. Schulgesetz, § 4 „Inklusive Schule“, einen Paragrafen zu Beginn des Gesetzes, der das Bekenntnis zur Inklusion in Tageseinrichtung für Kinder und inklusive Kindertagespflege aufzeigt:

Ich schlage deshalb vor, diesen Paragrafen neu aufzunehmen:

§ (NEU) Inklusive Tageseinrichtungen für Kinder und inklusive Kindertagespflege

(1) 1 Die Tageseinrichtungen für Kinder und die Kindertagespflege ermöglichen allen Kleinkindern und Kindern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang und sind damit inklusive Kindertageseinrichtungen und inklusive Kindertagespflegeeinrichtungen. 2 Welche Form an Tageseinrichtungen oder der Tagespflege die Kinder besuchen, entscheiden die Erziehungsberechtigten (vgl. § 5 SGB VIII).

(2) 1 In den Tageseinrichtungen für Kinder und in der Kindertagespflege werden Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam gefördert, gebildet, betreut und erzogen. 2 Kinder, die wegen einer bestehenden oder drohenden Behinderung auf heilpädagogische Unterstützung, interdisziplinäre Frühförderung und Therapien angewiesen sind, werden durch wirksame individuell angepasste Maßnahmen unterstützt, von dem Zeitpunkt an, an dem die Beeinträchtigung oder drohende Behinderung diagnostiziert ist. 3 Ein Bedarf an Unterstützung umfasst alle (drohenden) Behinderungen sowie Entwicklungsverzögerungen.

Ich fordere,

► den vorgelegten Gesetzentwurf in dieser Form sofort zurückzunehmen und

das Bekenntnis zum gemeinsamen Fördern, Bilden, Betreuen und Erziehen von Kleinkindern und Kindern mit und ohne Behinderungen und damit ein neues gänzlich auf Inklusion ausgerichtetes Gesetz zur Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege, welches während der Erarbeitung alle anzuhörenden Verbände und Interessenvertretungen für Menschen mit Behinderungen von vornherein einbezieht.

► Nichtdiskriminierung und gleichberechtigte Teilhabechancen von Kindern mit und ohne Behinderungen in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege.

► einen entsprechenden Paragrafen einzufügen, der zu Inklusion verpflichtet und die damit verbundenen pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen ab Diagnosestellung einer (drohenden) Behinderung sofort einleitet.

► die weiteren Paragrafen entsprechend der Ausgestaltung von Inklusion anzupassen und Rahmenbedingungen (personell, materiell, räumlich, fachlich) zu schaffen, die Inklusion in der Praxis sowohl in der Kindertageseinrichtung als auch in der Kindertagespflege ermöglichen.

► zeitliche Ressourcen für die Planung und Umsetzung von Inklusion und Inklusionskonzepten) einzukalkulieren.

► interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Einrichtung zu fördern und entsprechend pädagogisches und therapeutisches Personal in den Einrichtungen zu beschäftigen.

► die damit verbundene Aufhebung der Kostenneutralität zur Ausgestaltung des Gesetzes zur Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege.

► die sozialen, ethischen und menschenrechtlichen Interessen an dieser Stelle über die wirtschaftlichen Interessen zu stellen. Die Berufsgruppen in Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege sowie die Kinder mit Behinderungen selbst müssen es ethisch wert sein, dass die Qualität von Förderung sowie dessen Voraussetzungen und nicht die Kosten im Fokus stehen.

► ein finanzielles Anreizsystem für Inklusion zu schaffen.

Begründung:

In der Corona Pandemie zeigt sich aktuell, welche Berufe unverzichtbar sind. Dazu zählen Erzieher:innen und weitere Berufsgruppen, die in der Betreuung von Kindern arbeiten. Diese Berufsgruppen haben während des Lock-Downs weitergearbeitet und leisten auch jetzt unersetzbare Arbeit. Diese Tätigkeiten bedürfen nicht nur ideeller Wertschätzung, sondern es müssen finanzielle, räumliche und personelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen diese Wertschätzung anerkannt wird. Ehrlich gemeinte Inklusion braucht Voraussetzungen, damit die Qualität in den Einrichtungen bestehen kann und weiter ausgebaut werden kann. Vielfalt berücksichtigen und Inklusion von Kindern mit Behinderungen darf nicht einfach „mitgemacht“ werden müssen, sie muss in ein Konzept eingegliedert sein, dessen Planung Zeit und Ressourcen einkalkuliert.

Die Antworten in der Fragerunde mit dem Kultusministerium am 07.12.2020, war unbefriedigend – insbesondere darauf, warum Inklusion nicht im Gesetzentwurf verankert worden sei. Es ist ein Widerspruch in sich, wenn argumentiert wird, dass Ziel des Gesetzes sei, einerseits die Qualität in den Einrichtungen zu verbessern, Inklusion umzusetzen (wofür kein Paragraf geschaffen wurde) und andererseits mit Kostenneutralität zu argumentieren. Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif, würde aber auch zu keiner Kostenexplosion führen.

Derzeit gibt es eine Verschiebung von Kosten. Kinder, die nicht ausreichend therapeutisch, pädagogisch und psychologisch gefördert werden (vgl. sensible Phasen in der Kindheit), werden auch später deutlichere Einschränkungen/Behinderungen erfahren und langfristig Kosten verursachen. „Die Startkosten sind zunächst hoch, auf lange Sicht ist inklusive Bildung nicht teurer, da Inklusion die Bildungschancen aller Kinder erhöht – was direkte Auswirkungen auf die Sozialsysteme hat“ (Inklusionsfakten.de).

Ich fordere eine Zusammenarbeit zwischen dem Kultusministerium und dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, um an dieser Stelle ein Anreizsystem für Inklusion - und nicht für Separation - zu schaffen. Finanzierungen, die in Sonderreinrichtungen fließt, müssen kurz-, mittel- und langfristig in Regelsysteme fließen, nur so kann dem Anspruch auf Inklusion entsprochen werden.

Alle Einrichtungen müssen barrierefrei geplant und gebaut werden. Vorhandene Einrichtungen müssen schrittweise für Kinder, Personal und Eltern zugänglich und nutzbar gemacht werden. Zu Baukosten gibt die Terragon-Studie einen Überblick: „Die Untersuchung analysiert die Mehrausgaben für barrierefreies Bauen im Vergleich zum konventionellen Bauen anhand eines exemplarischen Wohnungsneubauprojektes und kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: Barrierefreiheit macht nur gut ein Prozent der Gesamtbaukosten aus. Barrierefreies Bauen ist demnach keine Frage der Kosten, sondern vielmehr der Konzeption und Planung.“

Zum Rechtsanspruch auf Inklusion müssen auch die Rahmenbedingungen für dessen Umsetzung stimmen. Für die Umsetzung von Inklusion in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege müssen schon jetzt in diesem Gesetz entsprechende Rahmenbedingungen (personell, materiell, räumlich, fachlich) festgelegt werden, um dem mit Inklusion von Kindern mit Behinderungen verbundenen deutlich höheren Betreuungs- und Förderbedarf gerecht zu werden. Analog zu Kindertageseinrichtungen müssen auch in Tagespflegeeinrichtungen die gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderungen in der Praxis geregelt sein, indem heilpädagogisches und therapeutisches Personal als Voraussetzungen vor Ort zur Verfügung stehen.

Dazu gehört aber auch, dass das pädagogische Personal nicht zusätzlich mit diesen Aufgaben - ohne finanzielle Aufwertung und ohne entsprechende Kenntnisse aus der Ausbildung - konfrontiert werden darf. Wenn Inklusion in der Kindertageseinrichtung und in der Kindertagespflege ehrlich gewollt ist, müssen die Fachkräfte entsprechend ausgebildet und geschult sein. Außerdem muss der Erzieherberuf – nicht nur ideell – sondern deutlich finanziell aufgewertet werden. Nur so kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt und die Qualität in den Einrichtungen auch für Inklusion von Kindern mit Behinderungen aufrechterhalten werden.

Der Fachkräftemangel darf nicht dadurch gelöst werden, dass Abstriche an der Qualität erfolgen und Assistenzkräfte oder Helfer:innen in den Gruppen zum Einsatz kommen – Letztere müssen zusätzlich die Gruppen unterstützen. In der Kita ab 3 Jahren müssen künftig ab sofort drei pädagogische Fachkräfte eingesetzt werden. Der Aufschub auf das Jahr 2025 ist nicht hinnehmbar. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt einen Betreuungsschlüssel in der Krippe von 1:3, in der Kita, ab 3 Jahren, von 1:7,5.

Das Gesetz nimmt in der Begründung Bezug zur UN-Behindertenrechtskonvention. Bei einer ehrlich gewollten Inklusion - gehört zudem immer auch eine entsprechende Ausgestaltung von Rahmenbedingungen und zwar ab dem Tag der Diagnosestellung von (drohenden) Behinderungen und Entwicklungsverzögerungen. Das bedeutet, dass Leistungen (z. B. heilpädagogische Förderung) nicht mit der Voraussetzung der Gruppenverkleinerung verbunden sein dürfen. Gruppengrößen können im Verlauf des Kindergartenjahres nicht ad hoc verkleinert werden, dies ginge lediglich zum Ende eines jeden Jahres. Wurde bei einem Kind zu Anfang eines Kindergartenjahres eine (drohende) Behinderung diagnostiziert, so muss die Förderung/Therapie/Unterstützung sofort beginnen. Eine Kooperation zwischen der Leitung, den Mitarbeitenden und der heilpädagogischen Kraft sowie Therapeut:innen und Frühförder:innen muss gegeben sein, diese müssen vor Ort in der Einrichtung beschäftigt sein. Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den pädagogischen Fachkräften, der Leitung und den Therapeut:innen und Pädagog:innen kommt einen hohen Stellenwert zu. Der Elternarbeit kommt ebenso eine wichtige Rolle zu. Es müssen regelmäßig Entwicklungsgespräche mit allen Beteiligten stattfinden.

Die Begriffe Bildung, Betreuung und Erziehung werden im vorgelegten Gesetzentwurf durch den Begriff „Förderung“ ersetzt. Pädagogische Fachkräfte arbeiten viel differenzierter, daher plädiere ich für das Aufnehmen aller vier Bezeichnungen:
Bildung, Betreuung, Erziehung und Förderung.

§ 9 beschreibt pädagogische Kräfte in Kindertagesstätten. Ergänzend möchte ich folgende neuere Berufsgruppe aufführen: Pädagogische Fachkräfte sind auch Rehabilitationspädagog:innen (Diplom-, Bachelor- oder Masterabschluss).

Inklusion muss von Anfang an in der frühkindlichen Bildung umgesetzt werden, sodass einerseits Kinder ohne Behinderungen für deren Belange sensibilisiert werden (was zur nachhaltigen Bewusstseinsbildung beiträgt) und andererseits Kinder mit Behinderungen bestmögliche inklusive Settings einhergehend mit noch mehr Teilhabechancen ermöglicht.

Diese Berufsgruppen leisten jetzt in der Corona-Pandemie außerordentliches in der Betreuung und tragen damit zur Stabilität der Wirtschaft bei, da die Eltern der Kinder arbeiten gehen können. Deshalb sind wir es ihnen nachhaltig schuldig, gute Arbeitsbedingungen zur Umsetzung von Inklusion zu schaffen. Alle Kinder, das schließt eben auch Kinder mit Behinderungen ein, sind unsere Zukunft und deren Teilhaberechte und Teilhabechancen dürfen nicht bereits in der frühkindlichen Erziehung und Bildung in Sondersysteme münden. Sie brauchen Empowerment, wir alle brauchen Begegnungen, Mutmacher:innen, Vorbilder. Eltern haben das Recht, auch Kinder mit Behinderungen ab einem Jahr - auch ganztags - in die Krippe zu geben, dafür muss es ausgestaltete Rahmenbedingungen geben, sodass die wohnortnähe gewährleistet ist.

Das Gesetz kann in dieser Form nicht weiterverfolgt werden. Niedersachsen darf Kleinkinder und Kinder nicht diskriminieren. Wir müssen eine ehrlich gewollte, gelingende Inklusion in der Kindertagesstätte und in der Kindertagespflege im Gesetz verankern.

 

Mit freundlichen Grüßen

Petra Wontorra
Landesbeauftragte
für Menschen mit Behinderungen

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